Held oder Schurke?            
Vorwort von Gregor Wensing, Pulheim

„Immer hat Geschichte zwei Komponenten: das, was geschehen ist, und den, der das Geschehene von seinem Orte in der Zeit sieht und zu verstehen sucht. Nicht nur korrigieren neue sachliche Erkenntnisse die alten; der Erkennende selber wandelt sich. Die Vergangenheit lebt; sie schwankt im Lichte neuer Erfahrungen und Fragestellungen.“ (Golo Mann, deutsch-schweizerischer Historiker, 27.03.1909 - 07.04.1994).

Die Frage, ob jemand als Held oder als Schurke in die Geschichte eingeht, hängt sicherlich von vielen Umständen ab. Nun gibt es bewundernswerte Menschen, denen man die Auszeichnung „Held“ sehr gern zugestehen möchte – Albert Schweitzer oder Mutter Theresa seien nur beispielhaft genannt -, während man bei anderen die Bezeichnung „Schurke“ als viel zu milde und gnädig betrachten wird – man denke nur an Adolf Eichmann, der hinter seinem Schreibtisch sitzend ebenso bürokratisch wie emotionslos den gewaltsamen Tod von geschätzt sechs Millionen Menschen vorbereitete.

Was aber wäre gewesen, wenn der 2. Weltkrieg einen anderen Verlauf genommen hätte und Nazi-Deutschland als Sieger vom Schlachtfeld gegangen wäre? Hätte man in diesem Fall Eichmann, den von uns zu recht verachteten Anstifter zum Massenmord, nicht mit Lorbeeren überhäuft und sogar einen „Helden“ genannt?

Und wie sieht es aus mit Attentätern? Sind diese nur feige Mörder, die ahnungslose Opfer aus dem Leben reißen? Oder kann ein Attentat vielleicht sogar - eine Heldentat sein?

In der Schule haben wir in Schillers „Bürgschaft“ erfahren, dass ein Bürger von Syrakus namens Damon den Tyrannen Dionysios I. umbringen will – also drauf und dran ist, ein Meuchelmörder zu werden. Dieser Damon ist also ein Schurke - allerdings will er unter Einsatz seines Lebens die Stadt „vom Tyrannen befreien“, was doch sicherlich eine edle Absicht darstellt.  Im Verlaufe des Gedichtes erfahren wir dann, welch heldenhafte Mühen er auf sich nimmt, nur um seinen Freund aus der Gefangenschaft auszulösen,  wohl wissend, dass er damit zu seiner eigenen Hinrichtung eilt!

„Doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist,
Eh‘ du zurück mir gegeben bist,
So muss er statt deiner erblassen,
Doch dir ist die Strafe erlassen.“

Ein sehr ähnlich gelagertes Thema greift Schiller in seinem „Wilhelm Tell“ auf: Dieser tötet den Fronvogt Gessler, welcher ihn – den eigentlich unpolitischen und friedfertigen Tell – gezwungen hatte, mit seiner Armbrust einen Apfel vom Kopf seines eigenen Sohnes zu schießen. Dieser Gessler war von den Habsburgern eingesetzt worden, zu deren Reich seinerzeit die Schweiz gehörte, und führte dort eine selbstherrliche grausame Regentschaft.
 
Nur durch seine Waffe konnte Wilhelm Tell dem Recht zur Geltung und dem Schweizer Volk zur Freiheit verhelfen. In der sogenannten Rütliszene spricht Friedrich von Schiller durch den Mund des Protagonisten Werner Stauffacher von diesem Recht auf individuellen wie kollektiven Widerstand gegen die Tyrannei (wie es im Übrigen auch in Artikel 20 GG formuliert ist:  „(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“!):
„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last – greift er
hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
und holt herunter seine ew‘gen Rechte,
die droben hangen unveräußerlich
und unzerbrechlich wie die Sterne selbst –
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben –
Der Güter höchstes dürfen wir verteid‘gen
gegen Gewalt [...]“

Verständlich, dass „Wilhelm Tell“ ab 1941 nicht mehr in deutschen Theatern aufgeführt werden durfte…

Betrachten wir eine andere Persönlichkeit der Geschichte: Gavrilo Princip, dessen Attentat auf den Thronfolger der k.u.k.-Monarchie, Franz Ferdinand, und dessen Ehefrau Sophie den 1. Weltkrieg auslöste. Dieser Princip war Mitglied einer nationalistisch orientierten Geheimorganisation in Bosnien-Herzegowina namens Mlada Bosna (Junges Bosnien). Vornehmlich Schüler und Studenten hatten sich in diesem geheimen Zirkel mit dem Ziel der revolutionären Befreiung Bosnien-Herzegowinas von der österreichisch-ungarischen Besatzung zusammengefunden. Es liegt nahe, dass Gavrilo Princip für Österreich nichts anderes war als ein hinterhältiger Mörder, der zudem einen Weltenbrand entfacht hatte – im ehemaligen Jugoslawien dagegen hat er teilweise noch heute den Nimbus eines mutigen Befreiers.

Man könnte fast meinen, Niccolò di Bernardo dei Machiavelli habe schon 1531 mit seinem „Discorsi“ eine Art Freibrief für Attentäter ausgestellt:
„... ein weiser Mann wird niemals jemanden tadeln wegen einer ungewöhnlichen Tat, wenn sie dazu dient, ein Reich in Ordnung zu bringen oder eine Republik zu gründen. Wenn ihn auch die Tat anklagt, so muss ihn der Erfolg doch entschuldigen.“

Sind also die Unbekannten, die den Stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, am 27. Mai 1942 in Prag so schwer verletzten, dass er am 4. Juni 1942 an den Folgen dieses Attentats verstarb, Helden oder Schurken? Heydrich war schließlich als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes mit der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ betraut gewesen. Damit aber war er maßgeblicher Organisator des Holocausts und daher für zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich.

Eine ganz besondere Stellung nimmt in diesem Zusammenhang Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein, der in das bedeutendste Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 involviert war. Zur Zeit der Nazi-Herrschaft war verständlicherweise jeder, der dem „Führer“ nach dem Leben trachtete, automatisch ein ganz schlimmer Verbrecher. Dem zufolge wurden alle Personen, die mit dem Bombenanschlag auf das Führerhauptquartier zu tun hatten, innerhalb kürzester Zeit liquidiert und als „Volksverräter“ geächtet.

Dies änderte sich aber nach dem Ende der Nazi-Diktatur und kehrte sich gerade bei Claus Schenk Graf von Stauffen­berg ins Gegenteil um. Lange Zeit galt er als die Vorzeigefigur des Widerstandes gegen Hitler und sein Regime - und war somit ein Held, welchem seine Sorge um das Wohlergehen des Deutschen, aber auch anderer europäischer Völker und seinem Wunsch nach Frieden in Europa den Tod eingebracht hatte.

Bereits seit 1953 steht das von Richard Scheibe geformte „Ehrenmal der Opfer des 20. Juli 1944“ im Hof des Bendlerblocks in Berlin und schon 1954 hatte eine Briefmarke der „Deutschen Post Berlin“ an den 10. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler erinnert. Zum zwanzigjährigen Gedenken erschien 1964 der Briefmarkenblock „Deutscher Widerstand (20. Jahrestag Attentat auf Hitler)“ in einer Auflage von fast 7 Millionen Exemplaren. Eine 1957 erbaute Bundeswehrkaserne in Sigmaringen erhielt am 20. Juli 1961 seinen Namen (sie wurde allerdings im Zuge der Bundeswehrreform im Jahr 2015 geschlossen). Um den Namen zu erhalten, erfolgte 2013 die Umbenennung der Alberstadt-Kaserne in Dresden in „Graf-Stauffenberg-Kaserne“.

In neuerer Zeit gibt es aber auch andere Einschätzungen der Person Stauffenbergs und seiner Motive. So schrieb der britische Historiker Richard J. Evans (Professor für Neuere Geschichte an der Universität Cambridge mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus) im April 2009 im „Magazin“ der Süddeutschen Zeitung: „Selbst gegen Ende der Dreißigerjahre war Stauffenberg merklich stärker dem Nationalsozialismus zugetan als viele ältere Offiziere. Verwandte beschrieben ihn als das einzige »braune« Mitglied der Familie. Obwohl er später jegliche Begeisterung für den Nationalsozialismus verlieren sollte, hatte er für die parlamentarische Demokratie zeitlebens nur Verachtung übrig. Allein schon aus diesem Grund ist Stauffenberg als Vorbild für künftige Generationen schlecht geeignet.“ (http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/27927/).

Seine Motivation zum Umsturz ist daher eher in seiner Erkenntnis zu suchen, dass Hitler die deutschen Ressourcen über Gebühr strapazierte und so in seiner Selbstüberschätzung die deutschen Machtbestrebungen zum Scheitern verurteilte. Stauffenberg wollte wohl durchaus ein neues Europa unter der Führung des Deutschen Reichs, musste aber erkennen, „dass das nationalsozialistische Regime rücksichtslos jenes Wohlwollen zertrampelte, das ihm die Völker, die es vom Joch Stalins befreit hatte, anfänglich entgegengebracht hatten“ (Evans). Stauffenbergs Haltung prägten daher wohl eher militärische als moralische Überlegungen, die ihn dazu brachten, am Umsturz mitzuwirken, als absehbar war, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte.
Also doch kein „Held“ im heutigen Sinne?

Quelle:
Die Bürgschaft von F. von Schiller. Compositionen für die reifere Jugend, 1stes Heft No 1-6. Lithogr[aphiert] und zu haben bey J[oseph] Trentsensky in Wien, um 1825 (Wiki Commons)

Illustration der Ballade „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller.
Illustriert werden die Zeilen „Mich Henker ruft er, erwürget, /Da bin ich, für den er gebürget.“
Lithographiert in der Anstalt von Matthias und Joseph Trentsensky in Wien.